Herr Morgenthaler, Sie haben ein Buch geschrieben zum Aus- und Umsteigen. Wollen Sie die Arbeitnehmer zum Kündigen animieren?Mathias Morgenthaler: Nein, ich will niemanden, der mit seiner Stelle zufrieden ist, dazu überreden, sich selbständig zu machen. Aber viele machen einen Job, den sie als lästige Pflicht empfinden. Sie funktionieren wie ein Rädchen im Getriebe, als Teil eines grossen Systems, ohne grossen Gestaltungsraum. Gemäss neuster Gallup-Befragung gehen nur 16 von 100 Angestellten in der Schweiz bei der Arbeit mit innerem Feuer ans Werk. Die grosse Mehrheit verrichtet Dienst nach Vorschrift oder arbeitet sogar gegen das Unternehmen. Das ist für alle Seiten unbefriedigend und wirft die Frage auf, warum all diese unzufriedenen Berufstätigen nichts unternehmen. Wir wollen mit dem Buch aufzeigen, wie der Beruf zur Berufung werden kann.
Herr Zaugg, Sie begleiten Berufsleute in Veränderungsphasen. Warum halten manche Angestellte lieber an einem unbefriedigenden Job fest als etwas Neues zu wagen?Marco Zaugg: Wer eine Veränderung anstrebt, muss auch Unsicherheit in Kauf nehmen. Unsicherheit macht Angst. Deshalb verharren viele lieber in der vermeintlichen Sicherheit des Gewohnten. Sie vergessen dabei, dass diese Sicherheit fragil ist: Ein Chefwechsel, ein Firmenverkauf, eine Umstrukturierung, aber auch ein Unfall oder eine Krankheit können rasch alles auf den Kopf stellen – und schon sieht man sich von Aussen zu einer Veränderung gezwungen. Um eine Veränderung anzugehen, braucht es Energie. Diese Energie kann aus einem Leidensdruck kommen oder aus der Sehnsucht nach etwas anderem; oft ist es eine Mischung. Viele meinen, sie müssten den Weg genau kennen, bevor sie den ersten Schritt wagen. Damit blockieren sie sich selber. Viel wichtiger ist es, aufzubrechen und auch Verwirrung in Kauf zu nehmen.
Ein Berufswechsel ist für viele etwas Einschneidendes. Wie gelingt der Richtungswechsel am besten?Marco Zaugg: Manche glauben , dass ihnen irgendwann die erleuchtende Idee kommt und sie diese dann nur noch umzusetzen brauchen. Das ist eine Illusion. Oft geht es zunächst darum, überhaupt in einen Veränderungsmodus zu kommen. Hilfreich kann sein, zunächst mit kleinen Veränderungen im Alltag zu spielen: den Arbeitsweg zu verändern, anderswo als gewöhnlich zu essen, Tee statt Kaffee zu trinken, andere Menschen zu treffen. Dadurch signalisieren wir dem eigenen Hirn, dass Veränderungen willkommen und ungefährlich sind. Wichtig ist auch, sich mit Menschen auszutauschen, die ihre Gewohnheiten durchbrochen und Neues gewagt haben. Das führt dazu, dass wir Glaubenssätze, Dogmen und Muster hinterfragen und stattdessen Wünsche, Ideen und Fähigkeiten wiederentdecken und so Zugang finden zu dem, was uns stärkt.
Herr Morgenthaler, Sie haben über 800 Interviews mit Um- und Aussteigern geführt. Welche Geschichten haben Sie besonders beeindruckt?Morgenthaler: Die 27-jährige Akademikerin, die sich an der Zirkusschule in Rio de Janeiro einschrieb, obwohl sie dafür gut 10 Jahre zu alt war, hat mich sehr beeindruckt. Oder der Betriebsökonom, der sich in der Freizeit in einem Projekt in Bolivien engagierte und dort mit seinem Pensionskassengeld 20 Tonnen Quinoa kaufte und in die Schweiz importierte. Der Theologe, der Feuerwehrmann wird, der Novartis-Direktor, der mit 43 Jahren die Ausbildung zum Kaospiloten antritt...es sind so viele Beispiele, die zeigen, was alles möglich wird, wenn man sich traut, die eigene Geschichte zu schreiben.
Was zeichnet diese Menschen aus? Gibt es überhaupt Gemeinsamkeiten?Morgenthaler: Jede Geschichte ist anders, aber vermutlich haben all diese Mutigen mehr auf die innere Stimme gehört als die Ratschläge von aussen, haben die Neugier höher gewichtet als die Angst, stärker die Erfüllung gesucht als den Erfolg. Viele von ihnen haben in wichtigen Momenten unvernünftig gehandelt. Das kann man gar nicht stark genug betonen in einer Gesellschaft, die so viel Wert darauf legt, dass man etwas Rechtes lernt, einen sicheren Job hat, nicht aus der Reihe tanzt und ja nicht scheitert.
Herr Zaugg, im dritten Teil des Buches haben Sie viele Fragen und Übungen zusammengestellt, die zum Selbstcoaching genutzt werden können. Wann sollte man sich in Umbruchphasen professionelle Hilfe holen?Zaugg: Es gibt Menschen, die immer wieder in der Lage sind, sich neu zu erfinden. Das ist wunderbar. Andere können dies weniger, drehen sich schon seit langem im Kreis, blockieren sich immer wieder oder lassen sich von Ängsten lähmen. Für diese zweite Gruppe kann der Beizug von externer Hilfe sinnvoll sein, denn es macht einen grundsätzlichen Unterschied, ob man selber in seinen Gedanken dreht oder diese im Gespräch mit einem erfahrenen Sparringpartner, der auch mal ungewohnte oder quere Fragen stellt, langsam entwickelt und dann auch konkrete Schritte daraus ableitet.
Herr Morgenthaler, die Interviewpartner, die Sie auch in dieser Zeitung portraitieren, sind in den meisten Fällen privilegiert. Ist es nicht eine Illusion zu glauben, man könne seine Berufung leben und damit den Lebensunterhalt verdienen?Morgenthaler: Morgenthaler: Es ist ein Privileg, dass wir uns über den Broterwerb hinaus überhaupt mit Fragen der Selbstverwirklichung beschäftigen können. Sehr viele Menschen in der Schweiz verfügen über dieses Privileg. Viele gehen trotzdem jahrzehntelang einem Beruf nach, den sie eher als milde chronische Krankheit denn als Berufung empfinden. Der hohe Lohn wird dann zum Schmerzensgeld, die Freizeit zum Fluchtort. Ich halte nichts vom Modell der Work-Life-Balance. Sorgen wir dafür, dass wir uns bei der Arbeit entfalten können und die Arbeit so ein wichtiger und sinnstiftender Teil des Lebens wird. Das wird auch unsere Beziehungen und die Freizeit verbessern.
Das aktuelle Buch:
Mathias Morgenthaler / Marco Zaugg: Aussteigen – Umsteigen. Wege zwischen Job und Berufung. Zytlogge Verlag 2013.
www.aussteigen-umsteigen.ch